Das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi oder Fukushima I ([ɸɯˈkɯɕima], jap. 福島第一原子力発電所, Fukushima daiichi genshiryoku hatsudensho oder AKW Nr. 1) war mit sechs Reaktorblöcken und bis zu 4,5 Gigawatt elektrischer Nettoleistung eines der leistungsstärksten Kernkraftwerke in Japan. Es befindet sich unmittelbar am Pazifik auf dem Gebiet der Ortschaften Ōkuma und Futaba in der Präfektur Fukushima, 250 km nordöstlich von Tokio.
Fukushima-Daiichi wurde ab 1971 in Betrieb genommen und ist damit das älteste Kernkraftwerk der ehemals staatlichen Tōkyō Denryoku (Tokyo Electric Power Company – TEPCO), die auch das zwölf Kilometer südlich gelegene Kernkraftwerk Fukushima-Daini (Fukushima AKW Nr. 2) betreibt.
Die Unfallserie im März 2011 beschädigte die Reaktorblöcke 1 bis 4 so stark, dass sie aufgegeben werden mussten.[1] Die japanische Regierung will das Kraftwerk vollständig stilllegen.[2]
Bauweise
Jeder der sechs Kraftwerksblöcke basiert auf einem Siedewasserreaktor der dritten bis fünften Generation einer von General Electric entworfenen Baureihe (BWR/3, BWR/4 oder BWR/5). Block 4 wurde von Hitachi gebaut, alle übrigen von General Electric und/oder Toshiba.[3] Die Reaktorkerne der Blöcke 1-5 befinden sich in einem als Mark I bezeichneten Sicherheitsbehälter (Containment) der ersten Generation von General Electric, und dieser wiederum zusammen mit anderen Systemen im Reaktorgebäude, an das sich meerseitig jeweils ein Gebäude mit den Turbinen zur Stromerzeugung anschließt. In Block 6 kam ein weiterentwickelter Sicherheitsbehälter des Typs Mark II zum Einsatz. Der Bau von zwei zusätzlichen fortgeschrittenen Siedewasserreaktoren war geplant.
Die Anlage bezieht ihr Kühlwasser aus dem Meer und hat insgesamt eine Fläche von etwa 3,5 km². Die Blöcke 1/2, 3/4 und 5/6 bilden jeweils eine bauliche Einheit. Ab dem 21. August 2010 waren in Block 3 neben 516 Uran-Brennelementen auch 32 sogenannte MOX-Brennelemente mit einer Mischung aus Uranoxid und Plutoniumoxid im Einsatz.[4][5]
Auf dem Gelände befinden sich unter anderem auch mehrere Lager für radioaktive Abfälle, ein Verwaltungsgebäude, verschiedene Einrichtungen zur Umweltüberwachung und ein Sportplatz.[6]
Lagerung abgebrannter Brennelemente
Innerhalb der Anlage existieren sieben Abklingbecken zur Zwischenlagerung verbrauchter (abgebrannter) Brennelemente. Je eines dieser Becken befindet sich im zweiten bis dritten Obergeschoss des jeweiligen Reaktorgebäudes; sie sind nicht durch den Sicherheitsbehälter geschützt. Ihre Gesamtkapazität beläuft sich auf 8310 Brennelemente. Das Volumen des Beckens von Block 1 beträgt 1020 m³, bei Block 2 bis 5 sind es 1425 m³ und bei Block 6 1497 m³.
Zudem gibt es seit 1997 direkt neben Reaktorblock 3 und 4 ein separates Abklingbecken für maximal 6840 Brennelemente. Außerdem können seit 1995 bis zu 900 weitere Elemente in speziellen Behältern trocken gelagert werden.[15][16][17]
Nach Angaben des Betreibers waren die sechs Abklingbecken der Reaktorblöcke im März 2010 zu 41 % genutzt, das separate Becken zu 92 % und die Trockenlagerung zu 45 %. Die gelagerte Brennstoffmenge wurde mit insgesamt 10149 Brennelementen bzw. 1760 Tonnen Uran angegeben, und die Neuproduktion abgebrannter Elemente mit etwa 700 pro Jahr.[16] Somit lagerten im März 2010 rechnerisch die verbrauchten Brennelemente aus 14 ½ Jahren Betrieb auf dem Kraftwerksgelände.
Im März 2011 lagerten auf dem Gelände des Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi insgesamt 11.125 Brennelemente mit einem Gewicht von ungefähr 1.900 Tonnen, davon etwa 6000 im zentralen Abklingbecken.[18] In den Reaktorkernen und Abklingbecken der einzelnen Reaktorblöcke befand sich folgende Anzahl an Brennelementen:[19][20][21]
Besondere Risiken: Risiken des Kraftwerkstyps
Der Sicherheitsbehälter Mark I von General Electric, der in Fukushima I verwendet wurde, hat nach Ansicht verschiedener Experten ein unzureichendes System zur Vermeidung eines Druckaufbaus zwischen innerer und äußerer Schutzhülle. Ein Sicherheitsexperte der Atomic Energy Commission der USA forderte deshalb 1971, den Einbau dieses Systems zu beenden und zu verbieten. Ein Verbot lehnte die AEC-Führung 1972 ab, da es die Atomindustrie der USA beenden könne. 1976 kündigten drei hochrangige Ingenieure bei General Electric wegen Sicherheitsbedenken zu Mark I.[22] Einer davon, Dale Bridenbaugh, hielt die Auslegung des Mark I bei schweren Unfällen für unzureichend, regte einen Baustop während der Fehleranalyse an und kündigte, nachdem General Electric diesen ablehnte. Seines Wissens habe man die von ihm aufgewiesenen Design-Mängel in Fukushima I jedoch berücksichtigt. Der Sicherheitsbehälter sei keine direkte Unfallursache, aber in dem eingetretenen Fall von Erdbeben und Tsunami weniger „vergebend“ (nachgiebig) als andere Reaktorentypen gewesen.[23]
1985 stellte die für Kernkraftsicherheit in den USA zuständige Nuclear Regulatory Commission (NRC) fest, dass der Mark I in den ersten Stunden nach einer Kernschmelze versagen würde; ein NRC-Vertreter hielt dieses Versagen 1986 für zu 90% wahrscheinlich. Daraufhin wurde ein Ventilsystem entwickelt und in alle Mark I-Behälter eingebaut, das es erlaubt, radioaktiven Wasserdampf ungefiltert in die Atmosphäre zu entlassen.[24]
Die Bauweise des in Fukushima I übernommenen Kraftwerksdesigns, bei dem sich jeweils ein Abklingbecken neben dem Sicherheitsbehälter befindet, wird seit den Unfällen vom März 2011 verstärkt kritisiert, da sie die Gefahr von Beschädigungen und radioaktiven Emissionen erheblich vergrößere.[25] In Fukushima wurden diese Becken übermäßig für die Lagerung alter Brennelemente genutzt. Japanische Atomaufseher hielten dies für eine Fehlentscheidung; Investitionen in sicherere Möglichkeiten der Unterbringung wurden ihrer Ansicht nach unterlassen.[26]
Besondere Risiken: Konstruktionsmängel in Fukushima I
Nach den Unfällen im März 2011 wurden verschiedene Konstruktionsmängel des Kraftwerks bekannt, auf die Ingenieure, Seismologen und Aufsichtsbehörden seit langem hingewiesen hatten.
Nach Aussage des Ingenieurs Shiro Ogura, der am Bau von fünf der sechs Blöcke beteiligt war, wurden die für US-Standorte konzipierten Baupläne von General Electric beim Bau von Reaktorblock 1 ab 1967 unkritisch übernommen. Erst bei den weiteren Reaktorblöcken habe man diese Bauweise den japanischen Gegebenheiten angepasst. Auch dabei habe man die Gefahr von Tsunamis an diesem Küstenstandort nicht berücksichtigt. Erst 2007 habe man diese in Betracht gezogen und die Konstruktionsvorgaben überarbeitet. Die Kühlsysteme seien jedoch nach Vorgaben der Betreiberfirma nur für Erdbeben von maximal Stärke 8 auf der Richterskala ausgelegt worden. Ein stärkeres Erdbeben habe niemand für möglich gehalten. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen habe er nie kritisiert.
Laut dem am Bau beteiligten Ingenieur Masashi Goto war das Notkühlsystem des Kraftwerks nicht als Sicherungssystem konzipiert. Man habe Ventile und Rohre nicht auf den erhöhten Druck bei einem Unfall ausgelegt, so dass schon zu Beginn der Unfallserie vom März 2011 Radioaktivität entwichen sei.[27]
Der Ingenieur Mitsuhiko Tanaka war 1974 am Bau eines Stahldruckkessels für Hitachi führend beteiligt, der sich heute im Reaktorblock 4 befindet. Er erklärte im März 2011, der Kessel habe sich bei der Herstellung verzogen. Er habe geholfen, dies zu vertuschen, um die gesetzlich verlangte Verschrottung des 250 Millionen US-Dollar teuren Kessels zu umgehen. Dafür habe er einen hohen Jahresbonus und eine Verdienstmedaille von der Firma erhalten. 1988, zwei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl, habe er den Konstruktionsfehler des Kessels der Regierung Japans gemeldet. Hitachi habe seinen Bericht bestritten und die Regierung habe eine Untersuchung abgelehnt. Seit einem Treffen mit Tanaka 1988 hielt Hitachi daran fest, dass der Kessel kein Sicherheitsproblem darstelle.[28][29]
Beim Bau des Kraftwerks Fushima I wurde ein General-Electric-Entwurf übernommen, bei dem die Notstromgeneratoren im Untergeschoss der Turbinengebäude angebracht sind. Wegen der meernahen Lage des Kraftwerks konnten sie dort von einem Tsunami überschwemmt werden und ausfallen.[30][31] Laut Asahi Shimbun sagte ein ehemaliger Tepco-Manager, Fukushima I sei ein „Übungskurs für Toshiba und Hitachi gewesen, um nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip General Electrics Kraftwerksdesign kennenzulernen“. In später errichteten Kraftwerken wie dem benachbarten Fukushima II brachten Toshiba und Hitachi die Notstromaggregate an einer sichereren Stelle in den Reaktorgebäuden unter. Bei Fukushima I verblieben die Generatoren dagegen weiter an der ungeschützten Stelle, obwohl eine Tepco-interne Untersuchung dies als Sicherheitsrisiko einschätzte.[30]
Warnungen
Die NRC warnte 1990 auch vor dem Ausfall von Notstromgeneratoren und damit der Kühlsysteme von Kraftwerken, die in für Erdbeben anfälligen Gebieten stehen. Sie bezeichnete diesen Ausfall als eins der wahrscheinlichsten Risiken. Die Japanische Atomaufsichtsbehörde NISA zitierte diesen Bericht 2004. Laut Jun Tateno, einem früher zur Japanischen Atomenergie-Agentur gehörigen Wissenschaftler, habe Tepco nicht auf diese Warnungen reagiert und keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen. Deshalb könne man die außergewöhnliche Stärke des Erdbebens vom März 2011 nicht als Entschuldigung gelten lassen.[32]
Filmemacher Adam Curtis hatte in einer Dokumentationsserie der BBC 1992 auf Risiken im Kühlsystem von Siedewasserreaktoren wie denen in Fukushima I hingewiesen[33], die seit 1971 bekannt waren.[34]
2005 und 2007 kam es zu Störfällen in drei japanischen Kernkraftwerken durch Erdbeben, deren Stärke bei der Auslegung von Reaktoren nicht einkalkuliert worden war. Der Seismologe Ishibashi Katsuhiko analysierte diese Fälle und warnte 2007 vor der „fundamentalen Verletzbarkeit“ japanischer Kernkraftwerke bei Erdbeben, deren zunehmende Stärke und Häufigkeit beim Bau vieler Kraftwerke in den 1970er Jahren schwer unterschätzt worden sei.[35] Katsuhiko mahnte damals fundamentale Verbesserungen der Sicherheitsstandards für japanische Kernkraftwerke an. Nach den Unfällen 2011 kritisierte er, die Atompolitik habe seit 2007 nichts dazugelernt. Auch die japanische Energiewirtschaft und akademische Elite hätten die Warnungen ignoriert. Laut General Electric sollen jedoch alle sechs Reaktoren die Sicherheitsanforderungen der Nuclear Regulatory Commission für Erdbeben erfüllt haben.[36]
Nach dem Erdbeben vom 16. Juli 2007 mit der Stärke 6,6 hatte Tepco die Standorte seiner Kraftwerke geologisch prüfen lassen, um ihre Belastbarkeit bei Erdbeben und Tsunamis festzustellen. Infolge dieser Prüfung wurde bei Fukushima I eine Schutzmauer von 5,7 m Höhe gegen Tsunamis errichtet. Einige Notstromgeneratoren befanden sich jedoch auf Bodenhöhe direkt am Meeresufer und waren unzureichend vor Überflutung geschützt. Für Atomsicherheitsexperten weist dies darauf hin, dass Tepco zwar die Reaktorgebäude sicher genug gebaut, aber den möglichen Ausfall der Notstromgeneratoren durch Tsunamis nicht berücksichtigt hat.
Der am Bau der Fukushima-I-Reaktoren beteiligte Ingenieur Masashi Goto erklärte, die Sicherheitsrichtlinien der Regierung hätten keinen Ersatz für den Ausfall von Notstromgeneratoren verlangt. Sie hätten von den Firmen nur eine freiwillige Anstrengung erbeten, die Containment-Kessel erdbebensicher zu bauen. Sie hätten nie mit einem Worst-case--Szenario gerechnet. - Die Atomsicherheitskommission Japans hatte 2009 gefordert, bei jedem Kernkraftwerk eine stationäre Feuerwehrbrigade bereitzuhalten, um Feuer nach Erdbeben sofort bekämpfen zu können.[37]
Tatsuya Ito, ein früherer Abgeordneter der Präfektur Fukushima im Nationalparlament, erklärte, er habe den Firmenvorstand von Tepco seit 2003 mindestens 20 Mal bei direkten Treffen vor der Tsunamigefahr gewarnt. 2002 habe ein von der Firma selbst angeforderter Bericht der Japan Society of Civil Engineers das Szenario eines Tsunamis nach einem Erdbeben der Stärke 9,5 beschrieben. 2005 habe er deshalb an den Präsidenten von Tepco einen Brief geschrieben. Die Firma habe jedoch alle Warnungen missachtet.[38]
Der Seismologe Yukinobu Okamura, Leiter des Erdbebenforschungszentrums (Active Fault and Earthquake Research Center) am AIST, hatte ein Regierungsgremium 2009 vor einem verheerenden Tsunami wie jenem aus dem Jahre 869 gewarnt, doch Tepco lehnte die Warnung „als zu wenig fundiert“ ab.[39][40]
Bei einer parlamentarischen Anfrage am 26. Mai 2010 hatte NISA-Vertreter Nobuaki Terasaka eingeräumt, dass ein kompletter Stromausfall die Reaktorkerne partiell schmelzen lassen und so die Kühlung ihrer Kernbrennstäbe unmöglich machen könne. Daher hätten die Betreiber die Kraftwerke mit vielen Ersatzstromquellen gesichert, die einen Stromausfall innerhalb weniger Stunden kompensieren sollten. Jun Tateno erklärte dazu, mit einem besseren Schutz dieser Ersatzgeneratoren auch gegen außergewöhnlich starke Erdbeben und hohe Tsunamis wären die Unfälle vom März 2011 vermeidbar gewesen.[41]
Vertuschte Störfälle und mangelnde Kontrollen
2002 wurde bekannt, dass Firmenvertreter über 16 Jahre lang Reparaturberichte über Tepcos Kernkraftwerke gefälscht und den Aufsichtsbehörden in hunderten Fällen sicherheitsrelevante Vorfälle verschwiegen hatten. Daraufhin gab der Vorstand von Tepco die Fälschungen zu, trat zurück und wurde von der Regierung ersetzt. Alle Tepco-Kernkraftwerke wurden heruntergefahren und drei Wochen lang überprüft. Am 16. Mai 2003 wurde Fukushima I erneut angefahren.[42]
Seit dem Vorstandswechsel 2002 kam es in Fukushima I zu mindestens sechs Notabschaltungen und einer siebenstündigen kritischen Reaktion in Reaktorblock 3. Auch diese Vorfälle wurden verschwiegen.[43]
Wie am 21. März 2011 bekannt wurde, hatte die NISA am 1. März Tepco erhebliche Mängel bei Inspektion und Wartung nachgewiesen: 33 Geräte und Maschinen in Fukushima I, darunter die Kühlpumpen, Dieselgeneratoren und Temperaturkontrollventile der Reaktorblöcke, waren seit elf Jahren nicht sorgfältig kontrolliert worden.[44][45] Die NISA hatte Tepco eine Frist bis zum 2. Juni 2011 gesetzt, um einen Korrekturplan auszuarbeiten.[46]
Unfälle ab dem 11. März 2011
Zunächst wurde ein Gebiet im Umkreis von zwanzig Kilometern mit 70.000 bis 80.000 Anwohnern evakuiert, später noch einige weiter entfernte Orte mit besonders hoher radioaktiver Belastung. Landwirtschaftliche Erzeugnisse, Böden, Leitungswasser, Meerwasser und Fische im weiten Umkreis wurden mit Radioisotopen kontaminiert; teilweise wurden dabei die gesetzlichen Grenzwerte um ein Vielfaches überschritten.
Die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA stufte die Unfälle in den Reaktorblöcken 1 bis 3 auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse zunächst vorläufig als Stufe 4 („ernster Störfall“), dann als Stufe 5 („ernster Unfall“) und später – immer noch vorläufig – mit der Höchststufe 7 („katastrophaler Unfall“) ein.[47]
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